III.1 Allgemeine Ursachen der notorischen Schwäche von Argumenten

1. Die menschliche Abneigung, Fehler einzugestehen, und insbesondere, sie vor anderen einzugestehen. Wir empfinden dies häufig als "Gesichtsverlust" oder gar als eine Art der Bloßstellung. D.h. wir empfinden es als Minderung unseres Selbstwertgefühls.

2. Die Befürchtung, an Macht zu verlieren. Die "Versuchung der Macht" ist eines der größten Probleme, mit denen Menschen konfrontiert sind. Selbst wenn es sich nur um relative belanglose Positionen der Macht handeln, neigen wir dazu, sie zu verteidigen.

3. Die Befürchtung, durch Eingeständnisse von Fehlern an Autorität und/oder Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn wer häufig Fehler begeht, läuft Gefahr, dass seine Behauptungen nicht mehr hinreichend ernst genommen werden.

4. Manche Menschen empfinden die Gültigkeit von Argumenten als Zwang. Dies wird nachvollziehbar, wenn man an Verfahren wie das Kreuzverhör oder an Haltungen wie die Misologie denkt. Man fühlt sich durch Argumente "in die Enge getrieben". Eine beeindruckende Darstellung dieser Haltung findet sich in Faust I.

In den Versen 1910ff. heißt es:

"Mein lieber Freund, ich rat' Euch drum

Zuerst Collegium Logicum.

Da wird der Geist Euch wohl dressiert,

In spanische Stiefeln eingeschnürt." 

In platten polemischen Auseinandersetzungen werden selbst Prinzipien wie das Tertium non datur und der Satz der Widerspruchsfreiheit als Zwangsmechanismen diskreditiert. Das geht soweit, im Tertium non datur ein Hindernis oder gar ein Verbot eines 'mittleren Weges' im Sinne eines Kompromisses zu sehen. Manche Kulturwissenschaftler behaupten gar, 'im Osten' denke man anders und zwar freier und kompromissbereiter, weil man die beiden logischen Prinzipien nicht akzeptiere.

5. Einem Argument zu folgen bzw. "nachzugeben" - ein bezeichnender Ausdruck - kann bedeuten, etwas zu tun, das man nicht möchte; anders gesagt, etwas zu tun, das den eigenen Interessen, Wünschen und Hoffnungen zuwiderläuft. Erneut liefert Faust I ein beeindruckendes Beispiel. Faust entscheidet sich 'gegen jede Vernunft' und trotz voraussehbarer tragischer Konsequenz, seiner Gier 'freien Lauf zu lassen'.

Faust selbst ist sich seines Verhaltens bewusst:

"Sie, ihren [Margaretes] Frieden mußt ich untergraben!

Du, Hölle, mußtest dieses Opfer haben!

Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen!

Was muß geschehn, mag's gleich geschehn!

Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen

Und sie mit mir zugrunde gehn!" (V. 23360ff.)

Viele so genannte Pflicht-Neigungs-Konflikte folgen demselben Muster. Dies festzustellen, muss nicht heißen, das unhaltbare Konzept vom Menschen als geistig-sinnlichem Wesen zu teilen.

6. Vielfach gelingt es nicht, die Gültigkeit eines Arguments zu erkennen. Dafür kann in extremen Fällen mangelnde Intelligenz verantwortlich sein. Im Allgemeinen verhindern jedoch Vorurteile und Befangenheit die entsprechende Einsicht.

(a) Gewohnheit(en) und Bequemlichkeit erschweren die Zustimmung zu Korrekturen der eigenen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Es fällt uns oft schon schwer, nach 50 Jahren Großstadtleben in ein entlegenes Bergdorf umzuziehen, auch, wenn es dafür unabweisbare Argumente gibt.

(b) Erziehung und im Extremfall Indoktrination können Gewohnheiten zu schier unveränderlichen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen werden lassen.

Extreme Beispiele sind Hitlerjungen und Palästinenserjungen, die von klein auf stets nur ethisch und politisch einseitig 'erzogen' und informiert wurden. Eltern, Lehrer und Medien vermittelten ihnen kontinuierlich bestimmte Feindbilder. Hinweise, die diese Mitteilung hätten infrage stellen können - Alternativen - fehlten völlig. Die frühe Gewöhnung an Waffen, Kriegsspielereien, Zeltlager, 'Abenteuer', schöne Uniformen usw. verstärkten die Indoktrination. Entsprechende Karikaturen der (auch als hässlich gezeichneten) 'Feinde' und entsprechende Rhetorik kamen dazu. Die Forderung, ein Land, ein Volk oder einen Staat zu lieben (!) und ihm bedingungslos - und zwar bis zum Tod und insbesondere zum Märtyrertum - zu dienen, war ein weiterer indoktrinierender Faktor.

Selbst wenn man erwachsen wird, ist es fast unmöglich, sich solch systematischer, umfassender und alternativloser Indoktrination zu entziehen. Vielleicht ist kein Beispiel geeigneter, die Forderung zu begründen, zur Selbstkritik und Kritik zu erziehen, stets (auch) Alternativen zur Kenntnis zu bringen und deshalb Meinungsfreiheit zu gewährleisten.

7. Die Unklarheit ethischer - vor allem metaphysischer und religiöser - Doktrinen, die nicht nur Missbrauch erlaubt, sondern - logisch gesehen - oft geradezu impliziert.

8. Der Mangel an rechtsstaatlichen und quasi rechtlichen Institutionen, die die Menschenrechte unbeschadet aller Hindernisse zur Geltung bringen können.

Keine der Ursachen ist 'kulturspezifisch'. Vielmehr gründen allesamt in allgemeinen anthropologischen Konstanten oder (potentiell) allgemeiner menschlicher Erfahrung.